Aber warum Nigeria?
Inwieweit sind die zeitgenössische Korruptionskultur Nigerias und die vorkolonialen Konzepte von Ehre und Schenken verwurzelt? In Fragen der öffentlichen Verwaltung wurden europäische Kriterien und Normen in der Kolonialzeit in Westafrika aufgezwungen, durchgesetzt und von indigenen Bevölkerungsgruppen auf unterschiedliche Art und Weise aufgenommen. Die bestehenden Vorstellungen von kulturellen Werten und Pflichten mischten sich mit den neuen Wertesystemen. Die nigerianische Bevölkerung nutzte vor der Kolonialisierung Geld, allerdings war ihr Wirtschaftsystem nicht kapitalistisch ausgerichtet. Der Handel war untrennbar mit einer Reihe moralischer und religiöser Verpflichtungen verbunden. Feilschen war bei Markttransaktionen aufgrund des Fehlens standardisierter Gewichte und Maße normal. Die Umstrukturierung der Gesellschaft durch den Kolonialismus wurde von einem nigerianischen Kommentator als »Überfallkomplex« d. h. sanktionierten Diebstahl von außen bezeichnet. Vor der Kolonialisierung galten die Regel der Ehre und des Geschenkaustauschs. Selten wurde zwischen öffentlichem und privatem Reichtum unterschieden. Der Kolonialismus eröffnete neue Bereiche des sozialen und wirtschaftlichen Raums. In diesen Raum brachten die Menschen ihre Wertvorstellung aus dem vergangenen System ein.
Die Einwohner_innen betrachteten das Kolonialregime als korrupt, da sie die Kolonien für die Entwicklung ihrer Heimatländer in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Portugal, Spanien, Italien und Belgien ausbeuteten. Nkrumah benutzte für die entstandenen Kolonialstaaten die Metapher des Elefanten, der durch den Busch krachte und sich satt aß. Da dieses große Tier außerhalb der Gesellschaft war, konnte es von jedem getötet und gefressen werden. Ken Saro-Wiwa ist einer der bekanntesten nigerianischen Schriftsteller, der sich mit dem Thema befasst hat. Er beschreibt die Machenschaften der Politiker_innen in der frühen nationalistischen Zeit. In seinen Schriften werden die Plünderung der natürlichen Ressourcen, die Privatisierung staatlicher Institutionen, und das Wachstum privater Armeen kritisch beleuchtet.
Die Geschichten, die in Scams erzählt werden, reihen sich in eine Tradition der betrügerischen Schreiben ein. Als Urformen des Online Scams können die Briefe, die unter dem Namen Der spanische Gefangene oder der Jerusalem-Brief bekannt waren, zugeordnet werden. Die Jerusalem-Briefe beziehen sich auf einen Betrug, dessen Ursprung sich in Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts verorten lässt. Die Mechanismen dieser Briefe untersuchte Eugène-François Vidocq in seinem 1836 erschienenen Buch mit dem Titel Die Betrüger. Er beschreibt darin die Ursprünge dieser Briefe. Laut Vidocq drücken diese Dokumente die Nostalgie für das alte Regime aus, die einige Franzosen nach der Revolution empfanden.01 Die Namensgebung lässt sich auf die Straße Rue de Jerusalem des Gefängnisses in Paris zurückführen. Die meisten Betrüger_innen versendeten diese Briefe aus dem Gefängnis heraus.